Dr. Isabell Schenk-Weininger, 2005

anlässlich der Ausstellung

"Der Garten der Pfade, die sich verzweigen"

Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen

 

 

Ceci n'est pas la nature

 

Zu erkennen ist die Vegetation einer Wiese oder eines Waldrandes, unspektakulär-alltäglich, heimisch-vertraut, keine besonderen Pflanzen, nichts Blühendes, nur Blätter und Gräser. Man ist noch nicht einmal versucht, ein Bestimmungsbuch zur Hand zu nehmen, so gewöhnlich erscheinen diese Gewächse. Von Landschaft kann kaum gesprochen werden, sondern lediglich von einem eng begrenzten Ausschnitt eines fast banalen Stücks Natur. Es gibt auch keinen Anlass für eine metaphorische Interpretation und keinen Gegenstand, der einen auf die Fährte einer Geschichte locken würde. Stattdessen sind jenseits aller Abbildhaftigkeit eine Vielfalt an Formen und Linien, Strukturen und Verdichtungen, an Grüntönen, hell und dunkel, ins Gelbliche und ins Bläuliche gehend, in allen Nuancen und Schattierungen zu entdecken. Konkret ist in der Dreidimensionalität des abgebildeten Raums die Fülle der Details bis hin zum einzelnen Grashalm zu erkennen und zugleich verdichtet sie sich zur abstrakten ,Grünfläche' eines zweidimensionalen monochromen Tafelbildes. "Grün" lautet dann konsequenterweise auch der Titel der Fotografie von Andrea Hold-Ferneck aus dem Jahr 1999.

 

Die Künstlerin widmet sich in ihren Fotografien den grundlegenden Fragen der modernen Kunst im Verhältnis zur sichtbaren Welt: dem Verhältnis von Natur und Kunst, Bild und Abbild, Gegenständlichkeit und Abstraktion. Für ihre Reflexionen bedient sie sich Motiven aus der Natur. Häufig füllen - wie bei "grün" - Ausschnitte von Blumenwiesen, Walddickicht und Schilfrohren das Bildformat in einer Allover-Struktur, die sich scheinbar endlos fortsetzen lässt und die Betrachter ins Bild hineinzieht. Der Mangel an herkömmlicher Komposition befördert dabei gerade die Wahrnehmung der abstrakten Struktur- und Farbqualitäten des Motivs. Dies wäre mit der Wahrnehmung informeller Kunst vergleichbar, wenn hier nicht statt subjektiv gestischer Malerei die ,objektive' Aufzeichnung der Kamera die Betrachter immer wieder auf die Wirklichkeit des Abgebildeten zurückverweisen würde. Dieser Wechsel der ,Perspektive' zwischen Konkretem und Abstraktem macht gerade die Spannung im Rezeptionsprozess aus.

 

In anderen Arbeiten konzentriert sich Andrea Hold-Ferneck auf einzelne, teilweise hochartifizielle Pflanzen. So fotografiert siez. B. Knospe und Stängel einer Amaryllis. Die Vereinzelung des Motivs, die zentrale Komposition und der neutrale Hintergrund erinnern sowohl an die methodische Strenge der Fotoserien des Ehepaars Becher als auch an Karl Blossfeldts Planzenaufnahmen-angesiedelt zwischen naturwissenschaftlicher Dokumentation und dekorativ-ornamentaler Ästhetik. Dass sich Andrea Hold-Ferneck in ihren Farbfotografien der Pathosformel Triptychon bedient, drängt den dokumentarischen Aspekt zurück und betont ihr ästhetisches Interesse. Auch bei einer anderen Aufnahme, in der sie die geöffnete zweifarbige Blüte einer Amaryllis in einem nah herangezoomten Ausschnitt zeigt, wird der Blick auf deren abstrakte Qualitäten gelenkt: auf den aus der Mitte entspringenden Farbverlauf, der an die Pinselschwünge eines Malers erinnert.

Bisher war die Rede von einzelnen Fotografien, doch Andrea Hold-Ferneck präsentiert ihre Werke stets als Ensembles, die aus heterogenen Elementen zusammengestellt sind. Dabei spielt das Nebeneinander von Farb- und Schwarzweißaufnahmen mit ihren vermeintlich unterschiedlichen Realitätsgraden eine wichtige

Rolle. Das Schwarzweiß übernimmt dabei auch die Funktion, die Betrachter für die Farbe zu sensibilisieren. Gleiches gilt für die monochromen Elemente, die Andrea Hold-Ferneck häufig in ihre Ensembles integriert. Deren Farbtöne richten sich nach den Motiven der abbildhaften Fotografien, so nehmen z. B. zwei Quadrate unterschiedlicher Gelbtöne die Farbigkeit der Fotografie von Sumpfblumen auf. Oder sind - umgekehrt - die "Gelb"-Flächen Farbmuster für den Fotoabzug des Blütenteppichs? Verblüffend ist auf jeden Fall die Tatsache, dass die monochromen Bilder ebenfalls durch ein fotografisches Verfahren hergestellt sind. Dabei werden die Lichtwellen durch Filter hindurch auf lichtempfindliches Papier gelenkt, was im Entwicklungsprozess die gewünschte Verfärbung bewirkt. Die erste monochrome Fotografie Andrea Hold-Fernecks war allerdings 1995/96 auf herkömmliche Weise entstanden: Es war das Blau des wolkenlosen Himmels.

 

In ihren Ensembles präsentiert die Künstlerin außerdem  rahmenlose, hinter Plexiglas aufgezogene Fotografien neben auf Holzkörper montierten. Während die flach an der Wand hängenden Fotografien scheinbar trägerlos sind und vermeintlich Ausblicke auf die Welt wie durch eine Fensterscheibe bieten, betonen letztere in ihrer Objekthaftigkeit gerade den autonomen Kunstcharakter. Besonders raffiniert sind die samt Schattenwurf freigestellten Aufnahmen von Blättern des Gummibaums und der Schefflera. Diese Cutouts wirken, wie wenn die Blätter dreidimensional und real auf der Wand sitzen würden, wobei der Trompe-l'oeil-Effekt durch das Schwarzweiß der Fotos sofort konterkariert und zurückgenommen wird. Doch die Künstlerin bezieht tatsächlich auch echte Pflanzen und Früchte in ihre Inszenierungen ein, so z. B. Sansevierien in Blumentöpfen und Zitronen, platziert auf Kästen, die an Minimal Art erinnern. Die Zitrone war im übrigen schon in der Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts ein beliebtes Motiv. An der aufgeschnittenen Frucht – spiralförmig geschält und das schimmernde Fruchtfleisch entblößt – konnte die Virtuosität der illusionistischen Naturnachahmung hervorragend demonstriert

werden. Auch in Stillleben der klassischen Moderne taucht die Zitrone mit ihrer kompakten Form und kräftigen Farbe regelmäßig auf. In der Neuen Sachlichkeit wurde sie als Naturprodukt, dem paradoxerweise eine gewisse Künstlichkeit innewohnt, geschätzt - wie auch Gummibäume und Sukkulenten. Dieser Aspekt spielt sicherlich auch bei Andrea Hold-Ferneck eine wichtige Rolle. Wählt sie doch gerade für die dreidimensional wirkenden Cutouts wie auch für die realen Objekte Pflanzen und Früchte aus, die unseren Naturbegriff und damit die Domestizierung der Natur hinterfragen. Und so integriert die Künstlerin in ihre Ensembles auch Bücher über Gartengestaltung.

 

Andrea Hold-Fernecks Arrangements von schwarzweißen und farbigen, abbildhaften und monochromen Fotografien sowie realen Objekten sind wohldurchdachte und zugleich spielerische Anordnungen, in denen die verschiedenen Elemente in Dialog miteinander treten und die insbesondere auch den Ausstellungsraum erkunden und auf ihn Bezug nehmen. So verwendet sie z. B. gerne das vorhandene Mobiliar des Museums, vor allem Stühle. Dies könnte auch als Anspielung auf Joseph

Kosuth' Arbeit "One and Three Chairs" von 1965 verstanden werden, in welcher der Konzeptkünstler die Betrachter mit einem Stuhl. dessen Fotografie und der lexikalischen Definition des Begriffs ,Stuhl' konfrontierte. Doch Andrea Hold-Ferneck

bezieht auch Fenster, Türen, Vitrinen, ja selbst Steckdosen in ihre Arrangements mit ein und hält diese Raumkonstellationen in Dokumentationsfotos fest. jene Aufnahmen vergangener Ausstellungssituationen werden von der Künstlerin wiederum

in aktuelle Ausstellungen integriert, was noch einmal dezidiert ihre Auseinandersetzung mit dem Kontext Museum und die selbstreflexive Komponente ihres Vorgehens betont. Der Prozess der künstlerischen Produktion wie auch jener des rezipierenden Sehens selbst sind es, die den Betrachtern in Andrea Hold-Fernecks Ensembles bewusst gemacht werden. Doch haben ihre grundlegenden künstlerischen Reflexionen über ästhetische Differenzen nichts Didaktisch-Belehrendes an sich, sondern erweisen sich als lebendige Inszenierungen, die wie kleine Musikstücke komponiert sind und auf poetisch-sinnliche Weise wahrgenommen werden können. Wie in Jorge Luis Borges Erzählung mit dem Titel "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen", in der mehrere Geschichten ineinander verschachtelt sind und sich die Wirklichkeitsebenen vermischen, so kann der Blick der Betrachter in Andrea Hold-Fernecks Inszenierungen hin- und herwandern, schlendern, verweilen und sich vielleicht auch verirren auf den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Abbild, Mimesis und Abstraktion.

- Oder frei nach Magritte: "Ceci n' est pas la nature."

 

Isabell Schenk-Weininger